Herr Dr. Chrysanthou, was bedeutet das Jubiläum für die LWL-Klinik Lengerich und für Sie persönlich?
Das 150-jährige Jubiläum der Klinik ist für mich ein besonderes Ereignis, das wir nutzen werden, um uns ausführlich mit der Vergangenheit unserer Klinik zu beschäftigen. Leitend für mich ist hierbei der Spruch von Johann Wolfgang von Goethe: "Die Geschichte unserer Kultur gibt uns Auskunft darüber, wie wir zu dem geworden sind, der wir heute sind!"
Ich denke und hoffe, dass wir im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit unserer Klinik-Geschichte eine Schärfung bzw. Stärkung unserer Identität und unseres Selbstverständnisses erreichen werden. Nach meinen Erkenntnissen lässt sich, abgesehen von der Zeit des Nationalsozialismus, gegenüber unseren Patienten eine sehr humanistische Grundhaltung über die prägenden Therapieepochen zurück verfolgen. Daraus können wir, was unsere Identitätsbildung bezüglich unserer therapeutischen Kultur angeht, sehr viel herausziehen und als Orientierung für die Zukunft nutzen.
Ein Beispiel: Im 19. Jahrhundert war es üblich Krankenhäuser, die psychisch erkrankte Menschen behandelten, als Irrenheilanstalten zu bezeichnen. Der erste ärztliche Direktor der Klinik, Dr. Albert Vorster, setzte sich aber dafür ein, einen neuen Namen zu finden. Die Klinik wurde daraufhin in „Provinzial-Anstalt Bethesda“ umbenannt. Der Name kommt aus dem Hebräischen und bedeutet „Haus des Erbarmens“. Hier kann man die human geprägte Behandlungsphilosophie erkennen.
Auch baulich war die Errichtung der Kirche mit den beiden Türmen als Herzstück und Wahrzeichen der Klinik von Anfang an prägend und stand für eine christliche und der Nächstenliebe verpflichtende Grundeinstellung.
Welche Epochen der langjährigen Geschichte der LWL-Klinik Lengerich waren für die Patienten von besonderer Bedeutung?
Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts sind erstmalig sehr effektive Medikamente zur Behandlung der Psychose und der Depression eingesetzt worden.
Somit konnten gerade bei der Behandlung dieser Erkrankungen recht gute Ergebnisse erzielt werden, die eine Wiedereingliederung der Patienten in das normale Leben ermöglichten. Zuvor stellte sich die Situation so dar, dass Patienten mit chronischen Erkrankungen und nicht selten mit Schizophrenie sehr lange in der Klinik gelebt haben, bleiben mussten und diese für sie den eigentlichen Lebensmittelpunkt bildete.
Unsere Klinik war auch vor der Zeit der Medikamenteneinführung in der Fachöffentlichkeit besonders positiv durch die sogenannte "Aktive Krankenbehandlung" aufgefallen. Menschen, die durch akute Symptome mit erheblicher Unruhe und Selbstgefährdung in die Klinik kamen, konnte soweit geholfen werden, das wenig Zwangsmittel angewendet werden mussten. Dieser Anspruch war damals schon sehr hoch, genauso wie die Vermeidung von Suiziden. Herr Dr. Hermann Siemon hat in der Zeit von 1903 bis 1905 als stellvertretender Ärztlicher Direktor die Vorläufer der Beschäftigungs- und Arbeitstherapie erprobt und eingesetzt. Auch die Sozio-, Milieu- und Gruppentherapie sowie die Sporttherapie, die von Herrn Dr. Merguet eingeführt wurde, war in der Lengericher Klinik schon vor der Zeit der medikamentösen Behandlung sehr erfolgreich und intensiv. Merguet hat seinerzeit mit diesen Behandlungsverfahren wissenschaftliche Anerkennung in der Fachwelt gefunden.
Auch die aktive Einführung und Integration von Patienten in Familien, die sogenannte Familienpflege, war ab Anfang des 20. Jahrhunderts hier in der Klinik ein wichtiges Anliegen. Genauso wie die ambulante Betreuung von Patienten im Ruhrgebiet durch Ärzte unserer Klinik.
Ganz besonders wichtig war die Zeit der 60er Jahre im 20. Jahrhundert. Die Klinik hat sich sehr aktiv für die Umsetzung der Ergebnisse der Psychiatriereform, der Psychiatrie-Enquete, eingesetzt. Ich denke, dass dieser Zeitraum ganz besonders prägend für unsere Klinik war und bis heute unserer sozialpsychiatrischen Grundhaltung und unseren Aktivitäten Kraft verleiht.
Mahnend und unvergesslich bleibt jedoch das dunkle Kapitel der Nazizeit mit der Mitwirkung an der Ermordung von 250 Lengericher Patienten.
Wie hat sich die Therapie und Behandlung der Patienten innerhalb der letzten 150 Jahre verändert?
Es gab in der 150-jährigen Geschichte der Klinik in der Entwicklung von effektiven Behandlungsmaßnahmen erhebliche Fortschritte. Einige wurden bereits genannt. Ein Meilenstein war sicherlich die Einführung von medikamentösen Behandlungen in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Darüber hinaus ist zum Ende des letzten Jahrhunderts die Entwicklung der Psychotherapie mit spezifischen Verfahren für die verschiedenen Erkrankungen ganz besonders herauszustellen. Diese psychotherapeutischen Entwicklungen waren für uns sehr wichtig. Neben der sozialpsychiatrischen Grundorientierung ist für die Klinik die Psychotherapie ein besonders prägender Teil unserer Identität geworden. Bei der sozialpsychiatrischen Strukturentwicklung der Klinik nach der Psychiatriereform war die Klinik sehr aktiv und der Initiator in ihrem Versorgungsgebiet. Sie hat bei der Einführung von Fachabteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie in den Allgemeinkrankenhäusern im Ruhrgebiet, aber auch in Ostwestfalen, sehr aktiv mitgewirkt, damit die gemeindenahe Versorgung und Integration von psychisch kranken Menschen möglich wurde. Aber auch hier im Kreis Steinfurt hat die Klinik bei der Entwicklung der sozialpsychiatrischen Strukturen und Hilfsangebote eine besonders aktive und wichtige Rolle gespielt und nimmt diese weiterhin ein.
Wie sehen Sie die Zukunft für die psychiatrische Versorgung Ihrer Patienten?
Die Zukunft der psychiatrischen Versorgung wird vermutlich in hohem Maße durch das neue Entgeltsystem für die Psychiatrie beeinflusst. Auch die Entwicklung von weiteren modernen und sehr spezifischen psychotherapeutischen Verfahren wird eine wichtige Rolle spielen, wofür wir uns als Klinik auch sehr engagieren werden. Das sozialpsychiatrische Grundverständnis der Klinik verpflichtet uns, unsere therapeutischen Angebote nicht nur "um das Bett herum" zu organisieren, sondern unsere Angebote sowohl für tagesklinische wie auch störungsspezifische ambulante Angebote zu öffnen und weiter zu entwickeln.
Auch aufsuchende Angebote haben wir bereits in Modellform für schwer erkrankte Schizophrenie-Patienten entwickelt. Sehr spezifische und in Europa erstmalig eingeführte psychotherapeutische ambulante Behandlungsverfahren für die Behandlung von Borderline-Patienten wurden ebenfalls von uns äußerst erfolgreich eingeführt und auch wissenschaftlich evaluiert und publiziert. Ich denke, dass diese Wege weiter aktiv verfolgt werden müssen und für eine kontinuierliche erfolgreiche Zukunft der Klinik sorgen werden.